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Volksbühne:
EXTINC­TION

Kollision aus Party, Konzert, Live-Film und Sprechtheater

07.–27. Januar

07.01. 18:00
26.01. 19:00
27.01. 18:00
In französischer und deutscher Sprache mit deutschen, französischen und englischen Übertiteln.
Aufführungsdauer: ca. 5 Stunden, inkl. 2 Pausen
Achtung! Stroboskopeffekte im 1. Teil im Einsatz

Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

Von Juli­en Gos­se­lin mit Tex­ten von Tho­mas Bern­hard, Arthur Schnitz­ler und Hugo von Hofmannsthal

Der bro­deln­de künst­le­ri­sche und intel­lek­tu­el­le Furor im Wien des begin­nen­den 20. Jahr­hun­derts bil­det in EXTINC­TION von Juli­en Gos­se­lin den Aus­gangs­punkt, die „fröh­li­che Apo­ka­lyp­se“, wie der Autor Her­mann Broch die Zeit der euro­päi­schen Unbe­küm­mert­heit vor dem Krieg bezeich­ne­te, buch­stäb­lich umzu­set­zen. Aus­ge­hend von Arthur Schnitz­lers Thea­ter­stück Die Komö­die der Ver­füh­rung und den Novel­len Traum­no­vel­le und Fräu­lein Else, dem Frag­ment Boxer­auf­stand, sowie einem der lite­ra­ri­schen Schlüs­sel­tex­te der Moder­ne, Hof­mannst­hals Brief des Lord Chan­dos, sowie titel­ge­bend Tho­mas Bern­hards letz­tem Roman Aus­lö­schung kon­fron­tiert EXTINC­TION die Nobles­se der Wie­ner Eli­te ihr Stre­ben nach Schön­heit und Ide­al, mit der blan­ken Bru­ta­li­tät von Trieb und Tod.

In einer Kol­li­si­on aus Par­ty, Kon­zert, Live-Film und Sprech­thea­ter durch­leuch­tet das drei­tei­li­ge Lite­ra­tur­stück von Juli­en Gos­se­lin Nihi­lis­mus und Zer­stö­rung und sucht dar­in nach den Spu­ren einer ver­schüt­te­ten Revol­te und der Mög­lich­keit, das Pro­jekt der Moder­ne neu zu erfin­den. Es wen­det sich dem in die Kata­stro­phe schlit­tern­den öster­rei­chisch-unga­ri­schen Reich vor Aus­bruch des ers­ten Welt­kriegs zu. Die schein­ba­re Unbe­schwert­heit, die gesell­schaft­li­chen Debat­ten und die unter­schwel­li­gen Kon­flik­te, die Arthur Schnitz­ler zum Aus­druck bringt, machen schließ­lich Tho­mas Bern­hards radi­ka­lem Hass und Des­il­lu­sio­nie­rung Platz.

Juli­en Gos­se­lin ima­gi­niert die Apo­ka­lyp­se als radi­ka­le Ver­nich­tung der west­li­chen Kunst und Zivi­li­sa­ti­on und wählt Wien als bei­spiel­haf­ten Ort im noch jun­gen zwan­zigs­ten Jahr­hun­dert, einer im Ver­ge­hen und Auf­blü­hen begrif­fe­nen Kul­tur vol­ler Wider­sprü­che: Eine ver­gan­ge­ne Gegen­wart, die im Zei­chen steht von Aris­to­kra­tie, dro­hen­dem Unter­gang des Kai­ser­reichs, Bour­geoi­sie, Indus­tria­li­sie­rung, in der His­to­rie Freuds von Ner­vo­si­tät und Neur­asthe­nie sowie künst­le­ri­scher Avant­gar­den, dar­un­ter Mahler, Schön­berg, Anton von Webern, Alban Berg, Herr­mann Bahr, Hugo von Hof­manns­thal und schließ­lich Arthur Schnitz­ler. Die von Schnitz­ler beschrie­be­ne Wie­ner Gesell­schaft zwi­schen Igno­ranz, Indi­vi­dua­lis­mus, Libe­ra­li­sie­rung und Demo­kra­ti­sie­rung, Kul­ti­viert­heit, Gewalt, Frau­en­feind­lich­keit und Anti­se­mi­tis­mus, bil­det den Nähr­bo­den für Gos­se­lins Adap­ti­on der Literatur.

Im ers­ten Teil, eine Par­ty, ein DJ Set, Nebel, das Publi­kum tanzt oder schaut zu, am Ende begeg­nen sich zwei Frau­en (Rosa Lem­beck, Vic­to­ria Ques­nel), ein Paar könn­ten sie sein. Die Bot­schaft der Freun­din, drin­gend zu Hau­se anzu­ru­fen. Cut. Erst im drit­ten Teil der Insze­nie­rung wird sich der Hin­ter­grund der Geschich­te ent­fal­ten, wird man die­ser Figur ‚Rosa‘ wie­der begeg­nen, die eine Anver­wand­lung von Franz-Josef Murau aus Tho­mas Bern­hards Roman Aus­lö­schung – Ein Zer­fall und dem Autor Bern­hard selbst ist. Im zwei­ten Teil der Insze­nie­rung dann Salon, Ves­ti­bül und Gar­ten­fest. Hier ver­webt Gos­se­lin die ver­schie­de­nen Stof­fe mit ihren Figu­ren zu einem prä­sen­ten Kon­ver­sa­ti­ons­stück, in dem die Raf­fi­nes­se des gesell­schaft­li­chen Dia­logs der unter­drück­ten Gewalt und dem Unbe­wuss­ten gegen­über­ge­stellt ist, das sich immer wie­der Bahn bricht. Wie etwa in der Figur Fräu­lein Else (Zarah Kof­ler) – bei Schnitz­ler ein inne­rer Mono­log einer jun­gen Frau –, die sym­bo­lisch an der Schuld der Eltern­ge­nera­ti­on, kon­kret an den Schul­den des Vaters ver­zwei­felt und die, dadurch abhän­gig vom wohl­ha­ben­den Nach­ti­gall (Maxence Van­de­vel­de), der Selbst­sucht ihrer Umwelt aus­ge­lie­fert ist. Aus dem ‚Schnitz­ler Uni­ver­sum‛ ent­fal­tet sich auch das Kli­ma der Erzäh­lung Traum­no­vel­le, deren zen­tra­les Paar Alber­ti­ne (Cari­ne Goron) und Flo­re­stan (Denis Eyriey) von Träu­men, uner­füll­ten Sehn­süch­ten und unter­drück­ten sexu­el­len Lei­den­schaf­ten gespal­ten wird. Ein The­ma, das sich auch in der Figur der Aure­lie (Vic­to­ria Ques­nel), gelie­hen aus der Komö­die der Ver­füh­rung, spie­gelt, die an der gesell­schaft­lich tabui­sier­ten Lie­be zu ihrem Bru­der Fal­ke­nir (Guil­laume Bachelé) zer­bricht, und gleich­zei­tig im bour­geoi­sen Kunst­samm­ler Neme­th (Joseph Drou­et) unglück­lich Trost sucht. Das Gar­ten­fest, mit dem eben die­ses Thea­ter­stück im Ori­gi­nal beginnt, die belieb­ten Mas­ken­bäl­le im Wien des 20. Jahr­hun­derts, die bour­geoi­sen Din­ner, in denen die Kon­ver­sa­ti­on auf die Spit­ze getrie­ben ist, sie alle bil­den für den zwei­ten Teil der Insze­nie­rung den ele­men­ta­ren Sound, in dem sich die tra­gi­schen Nar­ra­ti­ve der ein­zel­nen Figu­ren ent­fal­ten. Die­ser am Abgrund tau­meln­den Gesell­schaft, die noch nicht für sich erfah­ren hat, dass sie bereits tot ist, stellt Juli­en Gos­se­lin eine all­um­fas­sen­de kos­mi­sche Kata­stro­phe gegen­über, die die Nega­ti­on und Ver­drän­gung der End­lich­keit noch ver­stärkt. Schließ­lich, im drit­ten Teil der Insze­nie­rung, wird die­ses Film-Noir-glei­che schwarz-weiß Abbild ver­drängt. Mit einem ver­dich­te­ten Mono­log aus Tho­mas Bern­hards auto­bio­gra­phi­schem Roman Aus­lö­schung – Ein Zer­fall, des­sen Protagonist:in (Rosa Lem­beck) mit ihrer Ver­gan­gen­heit bricht, erwacht das Tri­pty­chon und beschließt die Insze­nie­rung mit der Fra­ge, ob man sich mit Wut und Wucht den Schat­ten der Ver­gan­gen­heit erweh­ren und ent­zie­hen kann, um eine Zukunft mög­lich zu machen.

Der gefei­er­te fran­zö­si­sche Regis­seur Juli­en Gos­se­lin ist bekannt für bild­ge­wal­ti­ge Adap­tio­nen und Insze­nie­run­gen gro­ßer Rom­an­stof­fe von Autoren wie z.B. Rober­to Bola­ño, Michel Hou­el­le­becq oder Don deL­il­lo. Nach STURM UND DRANG, Gos­se­lins ers­ter Insze­nie­rung in Deutsch­land, die an der Volks­büh­ne am Rosa-Luxem­burg-Platz am 03. Juni 2022 urauf­ge­führt wur­de, insze­niert er mit EXTINC­TION zum zwei­ten Mal an die­sem Haus und erzählt damit sei­ne Geschich­te der deut­schen Lite­ra­tur wei­ter. Dies­mal in einer län­der­über­grei­fen­den Koexis­tenz mit sei­ner kol­lek­ti­ven Thea­ter­grup­pe Si vous pou­viez lécher mon cœur, die er 2009 mit künst­le­ri­schen Weggefährt:innen, dar­un­ter auch Schauspieler:innen, grün­de­te. So trifft mit Vic­to­ria Ques­nel, Cari­ne Goron, Guil­laume Bachelé, Joseph Drou­et, Denis Eyriey, Maxence Van­de­vel­de, sowie Zarah Kof­ler, Rosa Lem­beck, Marie Rosa Tiet­jen und Max von Mechow ein ein­ma­li­ges Ensem­ble aus zwei künst­le­ri­schen Umfel­dern zusammen.

Die Pro­ben fan­den in Ber­lin Rum­mels­burg, in Calais und in Mont­pel­lier in Frank­reich statt. EXTINC­TION wur­de am 02. Juni 2023 in Mont­pel­lier urauf­ge­führt, und eröff­net nun nach Sta­tio­nen beim Fes­ti­val d’Avignon und bei den Wie­ner Fest­wo­chen am 07. Sep­tem­ber 2023 die neue Spiel­zeit der Volks­büh­ne am Rosa-Luxemburg-Platz.

Mit: Guil­laume Bachelé, Joseph Drou­et, Denis Eyriey, Cari­ne Goron, Zarah Kof­ler, Rosa Lem­beck, Vic­to­ria Ques­nel, Marie Rosa Tiet­jen, Maxence Van­de­vel­de, Max von Mechow
Regie: Juli­en Gosselin
Büh­ne: Liset­ta Buccellato
Kos­tü­me: Caro­li­ne Tavernier
Musik: Guil­laume Bachelé, Maxence Vandevelde
Sound­de­sign: Juli­en Feryn
Video­de­sign: Jéré­mie Ber­naert, Pïer­re Mar­tin Oriol
Video­schnitt: David Dubost, Phil­li­pe Suss, Feli­ci­tas Sonvilla
Video­script: Elsa Rev­co­lev­schi, Julia Gostynski
Kame­ra: Richard Klemm, Gian Suh­ner, Jéré­mie Ber­naert, Bau­douin Rencurel
Licht: Nico­las Jou­bert, Kevin Sock
Dra­ma­tur­gie: Eddy d´Aranjo, Johan­na Höhmann
Eine Pro­duk­ti­on der Volks­büh­ne am Rosa-Luxem­burg-Platz und Si vous pou­viez lécher mon cœur