Von Julien Gosselin mit Texten von Thomas Bernhard, Arthur Schnitzler und Hugo von Hofmannsthal
Der brodelnde künstlerische und intellektuelle Furor im Wien des beginnenden 20. Jahrhunderts bildet in EXTINCTION von Julien Gosselin den Ausgangspunkt, die „fröhliche Apokalypse“, wie der Autor Hermann Broch die Zeit der europäischen Unbekümmertheit vor dem Krieg bezeichnete, buchstäblich umzusetzen. Ausgehend von Arthur Schnitzlers Theaterstück Die Komödie der Verführung und den Novellen Traumnovelle und Fräulein Else, dem Fragment Boxeraufstand, sowie einem der literarischen Schlüsseltexte der Moderne, Hofmannsthals Brief des Lord Chandos, sowie titelgebend Thomas Bernhards letztem Roman Auslöschung konfrontiert EXTINCTION die Noblesse der Wiener Elite ihr Streben nach Schönheit und Ideal, mit der blanken Brutalität von Trieb und Tod.
In einer Kollision aus Party, Konzert, Live-Film und Sprechtheater durchleuchtet das dreiteilige Literaturstück von Julien Gosselin Nihilismus und Zerstörung und sucht darin nach den Spuren einer verschütteten Revolte und der Möglichkeit, das Projekt der Moderne neu zu erfinden. Es wendet sich dem in die Katastrophe schlitternden österreichisch-ungarischen Reich vor Ausbruch des ersten Weltkriegs zu. Die scheinbare Unbeschwertheit, die gesellschaftlichen Debatten und die unterschwelligen Konflikte, die Arthur Schnitzler zum Ausdruck bringt, machen schließlich Thomas Bernhards radikalem Hass und Desillusionierung Platz.
Julien Gosselin imaginiert die Apokalypse als radikale Vernichtung der westlichen Kunst und Zivilisation und wählt Wien als beispielhaften Ort im noch jungen zwanzigsten Jahrhundert, einer im Vergehen und Aufblühen begriffenen Kultur voller Widersprüche: Eine vergangene Gegenwart, die im Zeichen steht von Aristokratie, drohendem Untergang des Kaiserreichs, Bourgeoisie, Industrialisierung, in der Historie Freuds von Nervosität und Neurasthenie sowie künstlerischer Avantgarden, darunter Mahler, Schönberg, Anton von Webern, Alban Berg, Herrmann Bahr, Hugo von Hofmannsthal und schließlich Arthur Schnitzler. Die von Schnitzler beschriebene Wiener Gesellschaft zwischen Ignoranz, Individualismus, Liberalisierung und Demokratisierung, Kultiviertheit, Gewalt, Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus, bildet den Nährboden für Gosselins Adaption der Literatur.
Im ersten Teil, eine Party, ein DJ Set, Nebel, das Publikum tanzt oder schaut zu, am Ende begegnen sich zwei Frauen (Rosa Lembeck, Victoria Quesnel), ein Paar könnten sie sein. Die Botschaft der Freundin, dringend zu Hause anzurufen. Cut. Erst im dritten Teil der Inszenierung wird sich der Hintergrund der Geschichte entfalten, wird man dieser Figur ‚Rosa‘ wieder begegnen, die eine Anverwandlung von Franz-Josef Murau aus Thomas Bernhards Roman Auslöschung – Ein Zerfall und dem Autor Bernhard selbst ist. Im zweiten Teil der Inszenierung dann Salon, Vestibül und Gartenfest. Hier verwebt Gosselin die verschiedenen Stoffe mit ihren Figuren zu einem präsenten Konversationsstück, in dem die Raffinesse des gesellschaftlichen Dialogs der unterdrückten Gewalt und dem Unbewussten gegenübergestellt ist, das sich immer wieder Bahn bricht. Wie etwa in der Figur Fräulein Else (Zarah Kofler) – bei Schnitzler ein innerer Monolog einer jungen Frau –, die symbolisch an der Schuld der Elterngeneration, konkret an den Schulden des Vaters verzweifelt und die, dadurch abhängig vom wohlhabenden Nachtigall (Maxence Vandevelde), der Selbstsucht ihrer Umwelt ausgeliefert ist. Aus dem ‚Schnitzler Universum‛ entfaltet sich auch das Klima der Erzählung Traumnovelle, deren zentrales Paar Albertine (Carine Goron) und Florestan (Denis Eyriey) von Träumen, unerfüllten Sehnsüchten und unterdrückten sexuellen Leidenschaften gespalten wird. Ein Thema, das sich auch in der Figur der Aurelie (Victoria Quesnel), geliehen aus der Komödie der Verführung, spiegelt, die an der gesellschaftlich tabuisierten Liebe zu ihrem Bruder Falkenir (Guillaume Bachelé) zerbricht, und gleichzeitig im bourgeoisen Kunstsammler Nemeth (Joseph Drouet) unglücklich Trost sucht. Das Gartenfest, mit dem eben dieses Theaterstück im Original beginnt, die beliebten Maskenbälle im Wien des 20. Jahrhunderts, die bourgeoisen Dinner, in denen die Konversation auf die Spitze getrieben ist, sie alle bilden für den zweiten Teil der Inszenierung den elementaren Sound, in dem sich die tragischen Narrative der einzelnen Figuren entfalten. Dieser am Abgrund taumelnden Gesellschaft, die noch nicht für sich erfahren hat, dass sie bereits tot ist, stellt Julien Gosselin eine allumfassende kosmische Katastrophe gegenüber, die die Negation und Verdrängung der Endlichkeit noch verstärkt. Schließlich, im dritten Teil der Inszenierung, wird dieses Film-Noir-gleiche schwarz-weiß Abbild verdrängt. Mit einem verdichteten Monolog aus Thomas Bernhards autobiographischem Roman Auslöschung – Ein Zerfall, dessen Protagonist:in (Rosa Lembeck) mit ihrer Vergangenheit bricht, erwacht das Triptychon und beschließt die Inszenierung mit der Frage, ob man sich mit Wut und Wucht den Schatten der Vergangenheit erwehren und entziehen kann, um eine Zukunft möglich zu machen.
Der gefeierte französische Regisseur Julien Gosselin ist bekannt für bildgewaltige Adaptionen und Inszenierungen großer Romanstoffe von Autoren wie z.B. Roberto Bolaño, Michel Houellebecq oder Don deLillo. Nach STURM UND DRANG, Gosselins erster Inszenierung in Deutschland, die an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz am 03. Juni 2022 uraufgeführt wurde, inszeniert er mit EXTINCTION zum zweiten Mal an diesem Haus und erzählt damit seine Geschichte der deutschen Literatur weiter. Diesmal in einer länderübergreifenden Koexistenz mit seiner kollektiven Theatergruppe Si vous pouviez lécher mon cœur, die er 2009 mit künstlerischen Weggefährt:innen, darunter auch Schauspieler:innen, gründete. So trifft mit Victoria Quesnel, Carine Goron, Guillaume Bachelé, Joseph Drouet, Denis Eyriey, Maxence Vandevelde, sowie Zarah Kofler, Rosa Lembeck, Marie Rosa Tietjen und Max von Mechow ein einmaliges Ensemble aus zwei künstlerischen Umfeldern zusammen.
Die Proben fanden in Berlin Rummelsburg, in Calais und in Montpellier in Frankreich statt. EXTINCTION wurde am 02. Juni 2023 in Montpellier uraufgeführt, und eröffnet nun nach Stationen beim Festival d’Avignon und bei den Wiener Festwochen am 07. September 2023 die neue Spielzeit der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz.
Mit: Guillaume Bachelé, Joseph Drouet, Denis Eyriey, Carine Goron, Zarah Kofler, Rosa Lembeck, Victoria Quesnel, Marie Rosa Tietjen, Maxence Vandevelde, Max von Mechow
Regie: Julien Gosselin
Bühne: Lisetta Buccellato
Kostüme: Caroline Tavernier
Musik: Guillaume Bachelé, Maxence Vandevelde
Sounddesign: Julien Feryn
Videodesign: Jérémie Bernaert, Pïerre Martin Oriol
Videoschnitt: David Dubost, Phillipe Suss, Felicitas Sonvilla
Videoscript: Elsa Revcolevschi, Julia Gostynski
Kamera: Richard Klemm, Gian Suhner, Jérémie Bernaert, Baudouin Rencurel
Licht: Nicolas Joubert, Kevin Sock
Dramaturgie: Eddy d´Aranjo, Johanna Höhmann
Eine Produktion der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz und Si vous pouviez lécher mon cœur